Volkmar Felsch [1]

Der Aachener Mathematikprofessor Otto Blumenthal

Vortrag in der Volkshochschule Aachen, 1. 10. 2003
überarbeitete Fassung [2]

Folie 1: Gedenktafel am Hauptgebäude

Meine Damen und Herren,

zunächst einmal möchte ich mich für die Einladung zu diesem Vortrag bedanken. Nach dem Vortrag von Herrn Lohe [3] über den Soziologen Alfred Meusel ist dies der zweite Vortrag über einen der vertriebenen Professoren, an die die Gedenktafel am Hauptgebäude der RWTH erinnert. Mich als Mathematiker hat besonders das Schicksal der beiden Mathematikprofessoren, Otto Blumenthal und Ludwig Hopf, beschäftigt.

Folie 2: Gedenktafel im Hauptgebäude

Für Otto Blumenthal gibt es im Innern des Hauptgebäudes noch eine weitere Gedenktafel. Es ist eine schlichte Steinplatte mit der Inschrift:

Otto Blumenthal

20. 7. 1876
1898
1905
1933
12. 11. 1944

   

geboren in Frankfurt a. M.
Promotion in Göttingen
o. Professor für Mathematik RWTH Aachen
amtsenthoben
gestorben im Konzentrationslager Theresienstadt

Diese Tafel erinnert an einen Menschen, der trotz seiner ungeheuer vielfältigen lokalen und überregionalen, ja auch internationalen privaten und beruflichen Bindungen und Beziehungen durch zunächst subtile und später immer brutalere Menschenrechtsverletzungen Schritt für Schritt demontiert, gedemütigt, zermürbt und schließlich vernichtet worden ist.

Seine Tagebücher zeigen einerseits, dass er bis zum Schluss immer wieder Menschen gefunden hat, die sich im Kleinen liebevoll um ihn gekümmert und ihm geholfen haben, wo sie nur konnten. Was es andererseits aber nicht gab, war ein Protest im Großen, eine Auflehnung gegen das Unrecht. Die Frage ist, warum nicht?

Letztendlich ist es wohl eine Ergebenheit in Gesetz und Ordnung: Was Gesetz ist, muss auch gemacht werden.

So etwas gibt es auch heute. Darum sollten wir das Schicksal von Otto Blumenthal als eine exemplarische Mahnung verstehen, vor ungerechten Entwicklungen die Augen nicht zu verschließen.

Otto Blumenthal, sein voller Name ist Ludwig Otto Blumenthal, wird 1876 als Sohn eines Arztes in Frankfurt geboren. Er wächst dort auf, macht 1894 sein Abitur und geht dann als Student nach Göttingen. Dort beginnt er zunächst, wie sein Vater, Medizin zu studieren, aber nach dem ersten Semester wechselt er das Studienfach und wendet sich der Mathematik zu.

In der Göttinger Universität, die sich zu dieser Zeit gerade zur Hochburg der Mathematik in Deutschland entwickelt, trifft er auf bedeutende Lehrer. Zu zwei von ihnen entwickelt er ein enges persönliches Verhältnis, das er auch nach seinem Studium und während seiner ganzen Aachener Zeit aufrechterhält.

Der eine ist der spätere Physiker Arnold Sommerfeld, der damals als junger Mathematik-Dozent in Göttingen arbeitet. Er wird schon sehr früh auf den begabten Studenten Otto Blumenthal aufmerksam und beginnt, ihn nach Kräften zu fördern.

Der andere kommt kurz danach als Professor nach Göttingen. Es ist David Hilbert, der heutzutage allgemein als der bedeutendste deutsche Mathematiker seiner Zeit gilt. Otto Blumenthal wird sein erster Doktorand.

1898 promoviert er summa cum laude. Danach legt er auch noch das Staatsexamen in Mathematik, Physik und Chemie ab, bevor er für zwei weitere Studiensemester nach Paris geht und sich schließlich 1901 in Göttingen habilitiert. In den folgenden Jahren arbeitet er als Privatdozent in Göttingen und übernimmt vorübergehend eine Lehrstuhlvertretung in Marburg.

Hier ist ein Foto aus dieser Zeit.

Folie 3: Foto Göttingen 1902

Im Jahre 1905 wird der erste Lehrstuhl für Mathematik an der RWTH Aachen frei. Arnold Sommerfeld, der zu dieser Zeit gerade selbst Professor in Aachen ist, empfiehlt seinen Schüler Otto Blumenthal. Dieser erhält den Ruf und wird am 1. Oktobeer 1905 im Alter von 29 Jahren Mathematikprofessor in Aachen. David Hilbert hält aus diesem Anlass eine Rede. Sie beginnt mit dem Satz:

Wenn ich mir unseren Freund Blumenthal, sein ganzes Wesen, Tun und Sinnen vorstelle, so erscheint mir nichts treffender als der eigenste Grundzug seiner Persönlichkeit hingestellt werden zu können als die Lust an der Arbeit, die echte rechte Arbeitsfroheit und Schaffenskraft.

In den knapp 28 Jahren von 1905 bis 1933, in denen Otto Blumenthal nun an der RWTH wirkt, unterbrochen nur durch seine Einberufung im Ersten Weltkrieg, halten diese Arbeitsfreude und Schaffenskraft stets an.

Folie 4: Foto Otto Blumenthal

In der Lehre obliegt Otto Blumenthal zunächst die Mathematikausbildung der Ingenieurstudenten, aber als dann 1922 in Aachen ein Studium für Mathematiker und Lehramtskandidaten eingeführt wird, übernimmt er die zusätzlichen Vorlesungen mit großer Begeisterung.

Auch in den Gremien der Hochschule engagiert er sich. Er ist mehrmals Abteilungsvorsteher, Wahlsenator, Dekan und Senatsvertreter der Fakultät. 1922 ist er einer der Gründer des Außeninstituts der RWTH und von 1922 bis 1927 dessen Vorsitzender.

Außerhalb der Hochschule ist er viele Jahre lang Vorsitzender der Aachener Mathematischen Gesellschaft. Ab 1924 ist er auch Mitglied im Vorstand der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.

Einen großen Teil seiner Arbeitskraft widmet er jedoch einer anderen Arbeit, die ihm David Hilbert noch in Göttingen angetragen hat, die er, wie es seine Art war, sofort übernommen hat und die ihm immer mehr ans Herz wächst: Er ist seit 1905 geschäftsführender Redakteur der "Mathematische[n] Annalen", einer international sehr renommierten mathematischen Zeitschrift, die von David Hilbert herausgegeben wird. De facto erledigt Otto Blumenthal über einen Zeitraum von 33 Jahren den größten Teil der damit verbundenen gewaltigen Arbeit.

Es ist nicht verwunderlich, dass unter diesen Umständen seine wissenschaftlichen Forschungen etwas zurückstehen müssen und er nicht mehr so viele Arbeiten veröffentlicht wie vor seiner Berufung nach Aachen. Trotzdem hat er einige bedeutende Beiträge in verschiedenen Gebieten der Mathematik geleistet, und der Aachener Professor Paul Butzer, der sich intensiv mit dem mathematischen Werk Otto Blumenthals beschäftigt hat, findet auch heute noch immer wieder neue Arbeiten anderer Mathematiker, die darauf aufbauen.

Folie 5: Verlobungsanzeige

Im Jahr 1908 heiratet Otto Blumenthal. Ich habe seine Verlobungsanzeige gefunden, in der er sich beehrt, seine

Verlobung mit Fräulein Mali Ebstein, Tochter des Geheimen Medizinalrats Professor Dr. Wilhelm Ebstein und seiner Frau Gemahlin Elfriede, geb. Nicolaier, anzuzeigen,

und in der diese sich beehren,

die Verlobung ihrer einzigen Tochter Mali mit Herrn Dr. Otto Blumenthal, Professor an der Technischen Hochschule Aachen, ergebenst anzuzeigen.

Diese Formulierungen klingen heute etwas geschraubt, sind aber damals üblich im deutschen Bildungsbürgertum, dem die Familien Blumenthal, Ebstein und Nicolaier angehören. Ich möchte kurz den Hintergrund dieser Familien beleuchten.

Folie 6: Foto Ernst Blumenthal (Vater)

Die Familie Blumenthal lebte schon seit mehreren Generationen in Frankfurt am Main. Ottos Großvater war Kaufmann. Sein Vater Ernst Blumenthal war Arzt und hat sich insbesondere als Armenarzt ausgezeichnet. Daneben engagierte er sich über vier Jahrzehnte lang intensiv in der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft.

Seine Mutter Eugenie Blumenthal stammte aus der Kaufmanns- und Lederfabrikantenfamilie Posen in Offenbach, die dort hohes Ansehen genoss.

Folie 7: Foto Wilhelm Ebstein

Die Familie Ebstein stammt aus Oberschlesien. Malis Vater, der Pathologe Wilhelm Ebstein, war ein bedeutender Mediziner. Er lehrte an der Universität Göttingen, arbeitete auf verschiedenen Gebieten der Medizin, veröffentlichte Hunderte von Arbeiten und mehrere Bücher, leistete wichtige Beiträge zur Geschichte der Medizin und machte sich in Göttingen einen Namen vor allem durch seinen Ausbau der Göttinger Klinik.

Über Malis Mutter Elfriede Ebstein weiß ich leider nichts. [4]

Malis Bruder Erich Ebstein war eine interessante Persönlichkeit. Er war eigentlich Arzt und arbeitete sein Leben lang als Arzt in Leipzig, machte sich aber gleichzeitig einen Namen als Literaturhistoriker. Sein Nachlass, soweit ihn die DDR nicht gegen West-Devisen verkauft hat, befindet sich jetzt im Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin. Er enthält Briefe von Mali und Otto Blumenthal, und dort habe ich auch die Verlobungsanzeige entdeckt.

Alle Eltern und Großeltern von Mali und Otto Blumenthal waren jüdischen Glaubens. Das wird den beiden später zum Verhängnis. Sie selbst gehören der protestantischen Kirche an. Otto Blumenthal ist unter dem Einfluss eines Freundes, der später Pastor wurde, bereits im Alter von 18 Jahren konvertiert. In Aachen engagiert er sich in der evangelischen Gemeinde, z. B. lässt er sich 1926 in die so genannte "große Gemeindeversammlung", eine Art erweitertes Presbyterium, wählen.

Folie 8: Foto Familie Blumenthal

Seine beiden Kinder, die Tochter Margrete und der Sohn Ernst, werden 1911 bzw. 1914 geboren. Die Familie wohnt in der Rütscherstraße zur Miete, erstaunlicherweise nacheinander in fünf verschiedenen Häusern, die es heute aber alle nicht mehr gibt. Eigentlich sehnt sich Otto Blumenthal nach einem Einfamilienhaus mit Garten. 1912, als Margrete gerade ein Jahr alt ist, schreibt er in einem Geburtstagsbrief an seinen Schwager Erich Ebstein:

Du hast ein warmes und zartes Interesse an unseren Umzugsplänen entwickelt. Mit deren Ausführung ist's etwas haperig. Wir inserieren, wenden uns an Agenten, antworten auf Inserate, sehen Häuser an und haben doch bisher noch nichts einigermaßen Verlockendes gefunden. Wir möchten natürlich wieder ins Freie, entweder in unserer jetzigen Gegend oder nach dem Wald zu, wir möchten außerdem ein Haus, in dem wir etwas behaglicher Platz haben, wir möchten schließlich einen kleinen Garten für das Margretlein: das alles auf einmal scheint nicht zu kriegen zu sein.

Als er zwanzig Jahre später daran geht, sich diesen Traum zu erfüllen, wird er vom Schicksal auf das Bitterste betrogen. Noch ist das aber nicht abzusehen.

Ebenso wie sein Vater und sein Schwager engagiert sich auch Otto Blumenthal außerhalb seines Berufes und zwar, wie wir heute sagen würden, in der Friedensbewegung. Gleich nach dem Ende des Krieges setzt er sich erfolgreich für eine internationale Aussöhnung unter den Mathematikern der verfeindeten Staaten ein. Auch in Aachen wird er aktiv. Er wird Mitglied in der Deutschen Liga für Menschenrechte und in der Gesellschaft der Freunde des neuen Russlands. [5] Er hält öffentliche Vorträge und vermittelt Kontakte. In einem Brief an ihren Bruder schreibt Mali Blumenthal im November 1930:

Ich bin seit gestern Abend von meiner Rundreise zurück und froh wieder daheim zu sein. Otto und Ernst fand ich wohl an. Außerdem fand ich unsere Fremdenstube besetzt durch einen jungen wallonischen Telegrafisten aus Charleroi, der zu der Grenzvereinigung der Friedensgesellschaft hier ist. Wir waren heute Vormittag in der sehr gut und feierlich aufgezogenen Versammlung im kleinen Ballsaal des alten Kurhauses (vorher Empfang im Rathaus) und haben einige sehr gute Reden in deutsch, flämisch oder holländisch gehört. [6]

Zwei Jahre später, am 30. Januar 1933, kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Die Auswirkungen sind bald überall zu spüren, auch in Aachen. Am 29. März beginnt die Kampagne "Kauft nicht bei Juden". Am selben Tag beschließt der neu gewählte Aachener Stadtrat in einem Akt vorauseilenden Gehorsams, Adolf Hitler die Ehrenbürgerwürde anzudienern.

Am 7. April erlassen die neuen Machthaber das berüchtigte "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", das die Entlassung aller Juden und Kommunisten aus dem Staatsdienst anordnet.

Am 27. April 1933 wird Otto Blumenthal verhaftet [7] und in so genannte Schutzhaft genommen. Der AStA der RWTH hat ihn wie einige andere Aachener Professoren in zwei Briefen an den zuständigen Minister in Berlin als angeblichen Kommunisten denunziert. Der Vorwurf ist falsch. Nach zwei Wochen Haft wird Otto Blumenthal wieder entlassen, aber trotzdem aufgrund des eben genannten Gesetzes von seinen Aufgaben an der Hochschule suspendiert.

Folie 9: Foto Ludwig Hopf

Was das bedeutete, beschrieb der damals ebenfalls suspendierte Mathematiker Ludwig Hopf. Auch ihm wurde Sympathie für den Kommunismus vorgeworfen, aber auch bei ihm spielte wohl die Tatsache eine wesentliche Rolle, dass er Jude war. Er sah das ganz deutlich so, denn er schrieb am 24. Mai 1933 in einem Brief an Arnold Sommerfeld:

Lieber Herr Professor!
Ihr und Ihrer lieben Frau so warm empfindende Briefe haben uns sehr wohl getan; es ist so schön zu empfinden, dass man immer noch in gleicher Weise zu seinen Freunden gehört und dass man fest in der alten Gemeinschaft wurzelt; das gibt die Hoffnung, dass vielleicht doch ein Zurückwachsen möglich ist. Freilich sind es zunächst die materiellen Sorgen, die uns in Anspruch nehmen; aber das kommt vielleicht in Ordnung. Aber dies Hinausgestoßenwerden aus der einzigen Gemeinschaft, in die man hineingehört, in den leeren Raum hinaus, ist sehr schmerzlich; der Mensch ist eben kein Einzelgänger, und die letzten Zeiten haben mich richtig gelehrt, was Heimat, Vaterland, Volk (beileibe nicht im Sinn der Nationalisten) bedeuten. Ins Ausland gehen, hieße für mich doch "Verbannung", und ich würde dies nur gezwungen tun, damit die Kinder wieder eine Heimat finden.
Und vernunftgemäß glaube ich ja auch, dass in 3 Monaten das meiste wieder zurückgenommen werden wird. Ein Volk, das sich seit 14 Jahren über das Ausnahmegesetz gegen sich beschwert, kann doch nicht seinerseits Ausnahmegesetze verhängen; und ein Volk, das stets energisch für die Rechte der Minderheiten eingetreten ist, kann doch nicht seinerseits Minderheiten derartig behandeln.

Über Otto Blumenthal heißt es in diesem Brief:

Blumenthal ist nach 15-tägiger Haft, die nur von einem kurzen, ganz belanglosen Verhör unterbrochen war, entlassen worden; vor Aufnahme seiner Vorlesungen wurde er aber, offenbar auf Betreiben der Studentenschaft, gleichfalls beurlaubt. Er hat seiner Frau nach einigen Tagen Unsicherheit die Verhaftung und jetzt auch die Beurlaubung mitgeteilt, und das tut recht gut, die Depression ist durch die wirkliche Sorge eher gemildert worden, die Lunge scheint wieder ziemlich in Ordnung.

Mali Blumenthal war zu dieser Zeit in Badenweiler, wo sie eine Lungentuberkulose auskurierte.

Diese ganze Entwicklung trifft Otto Blumenthal in einer Zeit, in der er dabei ist, sich einen zwanzig Jahre alten Traum zu erfüllen. Wir haben in seinem Brief von 1912 gelesen, wie sehnlich er sich ein Haus mit Garten für seine Familie wünschte. Nun ist es endlich so weit, das Haus ist im Bau, ein schönes Haus in der Limburger Straße, am Stadtrand von Aachen. Am 1. Oktober 1933, genau heute vor 70 Jahren, kann er es beziehen. Neun Tage vorher, am 22. September, wird er endgültig entlassen.

Folie 10: Entlassungsformular

Zu diesem Zeitpunkt ist er 57 Jahre alt und seit 28 Jahren, also die Hälfte seines Lebens, Professor an der RWTH. Der offizielle Entlassungsgrund lautet übrigens: "Mitglied der Liga für Menschenrechte seit 1919/21". [8]

Folie 11: Foto Ernst Blumenthal (Sohn)

Sein Sohn Ernst Blumenthal ist im Sommersemester 1933 Student an der RWTH, aber nach der Suspendierung seines Vaters kann er sein Studium hier de facto nicht mehr fortsetzen. In dem schon vorhin zitierten Brief von Ludwig Hopf an Arnold Sommerfeld liest sich das so:

Ernst ist etwas ausgeworfen; er blieb hier immatrikuliert, soll aber nicht an die Hochschule, wo er als politisch unsicher angesehen wird. Als fleißiger und strebsamer Blumenthal kann er sich zu Hause gut beschäftigen.

Otto Blumenthal schickt ihn nach Manchester in England und sorgt dafür, dass er dort noch im selben Jahr 1933 ein neues Studium beginnen kann.

Folie 12: Foto Margrete Blumenthal

Der Tochter Margrete Blumenthal ergeht es etwas besser. Sie studiert zu dieser Zeit an der Universität Köln und kann dort noch 1934 ihre Doktorprüfung ablegen. 1936 geht sie dann auch nach England.

Folie 13: Foto Otto Blumenthal

Otto und Mali Blumenthal bleiben in Aachen. Er, der sonst immer ein fleißiger Briefschreiber ist, scheint sich im zweiten Halbjahr 1933 vorübergehend zurückgezogen zu haben. Einen Brief von Arnold Sommerfeld vom September lässt er drei Monate lang unbeantwortet. Als er ihn dann endlich doch beantwortet, entschuldigt er sich mit dem Satz

Das Schreiben fällt schwer, wenn unerfreuliches zu melden ist.

Deshalb sind wir für diese Zeit auf die Berichte in den Briefen von Ludwig Hopf angewiesen. Darin heißt es etwa am 2. Dezember 1933:

Traurig ist das Kapitel Blumenthal; er hat zwar seine Kinder auf gutem Weg und sein neues, sehr schönes Haus bringt etwas Licht und Freude in sein Dasein; aber Mali ist immer noch nicht ganz auf dem Damm und ihn bedrückt die Ausgeschlossenheit und die Abneigung der Studierenden, die recht hässlich zum Vorschein gekommen ist; auch manche älteren Semester und Kollegen haben sich von einer wenig erfreulichen Seite gezeigt.

Nachdem man ihm seinen Lehrstuhl weggenommen hat, sind ihm nur noch die Mathematischen Annalen geblieben. Um diese Zeitschrift, die seit 28 Jahren praktisch "sein Kind" ist, macht er sich jetzt Sorgen. Als im Oktober 1933 ein neues "Schriftleitergesetz" erlassen worden ist, in dem es heißt:

Schriftleiter kann nur sein, wer arischer Abstammung ist und nicht mit einer Person von nichtarischer Abstammung verheiratet ist.

schreibt er an David Hilbert:

Lieber Herr Professor! Ich muss Ihnen mein Herz wegen der Annalen ausschütten.

Und dann, nach einem längeren Abschnitt über die allgemeine Situation:

Ich komme noch einmal auf meine eigene Stellung bei den Annalen zurück und möchte in dem, was ich jetzt schreibe, ja nicht missverstanden werden. Ich halte es für meine Pflicht Ihnen mein Amt zur Verfügung zu stellen, falls Sie finden, dass meine Abstammung oder meine unklare Lage als entlassener Professor oder irgendetwas anderes an mir dem Ansehen oder der Wirksamkeit der Annalen schaden könnte. Ich halte es für meine Pflicht Ihnen dies zu sagen, und ich werde ohne Empfindlichkeit zurücktreten, wenn Sie es für angezeigt halten. Sie werden mich aber auch richtig verstehen, wenn ich zufüge, dass es mich schmerzen wird die Tätigkeit aufzugeben, denn - abgesehen davon, dass bei meinen durch die Pensionierung auf etwa die Hälfte verminderten amtlichen Einnahmen die Annaleneinkünfte von etwa 100 Mark pro Monat eine recht wesentliche Stütze meines Budget bilden - beruht doch mein ganzes Ansehen in der wissenschaftlichen Welt wesentlich auf meiner Redakteurtätigkeit. Ich hänge deshalb sehr daran, aber ich klebe nicht daran: Das habe ich Ihnen sagen wollen und, wenn es im Interesse der Annalen liegt, werde ich zurückzutreten verstehen.

David Hilbert geht in seinem Antwortbrief auf dieses Rücktrittsangebot gar nicht erst ein. Für ihn ist es offensichtlich selbstverständlich, dass Otto Blumenthal weitermacht.

Der Hinweis auf die dringend benötigten 100 Mark zeigt, dass Otto Blumenthal durch die unverhoffte Zwangspensionierung in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Kein Wunder, wenn man an das neue Haus denkt!

Er sucht wieder eine richtige Stelle. Am 20. Dezember 1933 schreibt er an Arnold Sommerfeld:

Die Entfernung vom Lehramt trifft mich hart, denn ich habe sehr gern unterrichtet und dem Unterricht viel zu viel Zeit und Kraft geschenkt. Jetzt muss ich umlernen. Außerdem suche ich, wie so viele andere, Beschäftigung im Ausland, kurzfristig oder langfristig, wie es sich bietet. Wenn Du mir helfen willst und kannst, werde ich Dir sehr dankbar sein. Du weißt, dass ich eine gewisse Leichtigkeit habe, mich in Materien einzuarbeiten, auch wenn sie mir heute noch ferner liegen. Das könnte man vielleicht zu meinen Gunsten anführen, ferner meine Sprachkenntnisse. Ich habe schon verschiedene Bettelbriefe geschrieben, aber noch nichts in Aussicht.

Folie 14: Gruppenbild

Die erhoffte feste Stelle im Ausland findet er in den nächsten Jahren nicht. Es gibt zu viele jüngere Kollegen, die in der gleichen Situation sind wie er. Er wird zu einzelnen mathematischen Vorträgen eingeladen und reist dafür in verschiedene Länder. 1935 hält er eine mehrwöchige Vorlesung über Integralgleichungen in Bulgarien. Er hält sie auf Russisch, und um auch an den Diskussionen teilnehmen zu können, lernt er vorher Bulgarisch.

Zu dieser Zeit ist er fast 60 Jahre alt, aber das Sprachenlernen fällt ihm immer noch leicht. Er spricht fließend Englisch, Französisch und Russisch, auch ganz gut Italienisch, Bulgarisch und später auch Niederländisch, und er liest lateinische und griechische Bücher im Original.

Nach wie vor arbeitet er viel. Er schreibt eine Biographie von David Hilbert, beschäftigt sich mit neuen mathematischen Problemen und entwirft ein Konzept für ein Forschungsvorhaben über die griechische Mathematik.

Folie 15: Foto Otto Blumenthal

Auch sein Privatleben ist sehr ausgefüllt, seine Frau und er sind gesellschaftlich alles andere als isoliert. Sie erhalten und schreiben viele Briefe, haben einen großen Freundes- und Bekanntenkreis und fast täglich einmal oder mehrmals Besuch im Haus.

Der Druck, dem sie durch vielfältige Schikanen ausgesetzt sind, wird allerdings immer stärker.

Otto Blumenthal weicht schließlich dem Druck: Am 13. Juli 1939 verlässt er Deutschland. Wie es dazu kommt, möchte ich etwas ausführlicher schildern.

Noch ist es Anfang Februar 1939. Das Problem ist, dass er trotz seiner vielen Bewerbungen noch immer keine Stelle gefunden hat. Dabei sind seine Ansprüche außerordentlich bescheiden. In einer Anfang des Jahres in Englisch abgefassten Bewerbung [9] schreibt er,

dass er jeden Lehrstuhl in Reiner oder Angewandter Mathematik gut ausfüllen könnte, dass er aber auch mit einer Stelle als Assistent oder Lecturer an einer Universität oder als Lehrer an einer höheren Schule zufrieden sein würde, wenn nur das Gehalt ihm und seiner Frau ein ausreichendes, wenn auch bescheidenes Leben sichern würde, und dass er den Mathematikunterricht auch mit einem Unterricht in modernen Sprachen kombinieren könnte.

Es gibt immer wieder Hoffnungen, die sich zerschlagen, wie z. B. der Versuch des englischen Mathematikers Henry Whitehead, ihm durch eine Empfehlung an den Bischof von Chichester zu helfen.

Am 14. Februar erhält er ein Angebot, als Repetitor an die Technische Hochschule in Delft zu gehen. Diese Stelle erfüllt nicht einmal die bescheidenen Ansprüche, die er in seiner Bewerbung nennt. Er wird von Wohltätigkeit leben müssen. Aber die Einreisegenehmigung in die Niederlande ist gesichert. Als sie am 1. März mit der Post eintrifft, notiert er in seinem Tagebuch:

Wir können es noch nicht begreifen und fühlen uns zunächst der bevorstehenden Arbeit gegenüber hilflos.

Nach längerem Zögern nimmt er das Delfter Angebot am 17. März an. Noch am selben Tag beauftragt er einen Makler, sein Haus zu verkaufen.

Es beginnen vier Monate mit einem ungeheuren Stress. Um Pässe für sich und seine Frau beantragen zu können, braucht Otto Blumenthal eine "Unbedenklichkeitsbescheinigung" des Finanzamts. Die Bedingungen dafür sind zum Teil höchst schikanös:

Erst nach zwei Monaten mit unzähligen Behördengängen zu immer denselben Behörden ist auch der letzte Einspruch der Reichsbank erledigt, und er erhält die ersehnte "Unbedenklichkeit".

Der Hausverkauf geht schneller, er braucht nur einen Monat dafür. Nachdem immer mehr Makler und Kaufinteressenten das Haus besichtigt haben (und auch ein "Baumensch" von der Stadt wegen der Verkaufsgenehmigung), sucht er sich selbst den Käufer aus, den Ingenieur Leo Tillmann aus der Mozartstraße. Die Tillmanns sind ihm sympathisch. Am 21. April 1939 schließen sie beim Notar den Kaufvertrag.

In die Zeit, in der Otto Blumenthal nach einem Käufer für sein Haus sucht, fällt noch ein anderes Ereignis, das im Hause Blumenthal eine gewaltige Aufregung auslöst. Am 5. April erhält er ein Telegramm des französischen Mathematikers Jacques Hadamard, in dem dieser schreibt, er habe für ihn eine gute Stelle in Rosario in Argentinien gefunden.

Es beginnt ein hektischer Austausch von Briefen und Telegrammen, Otto Blumenthal zieht in aller Eile Erkundigungen ein, holt sich Rat bei verschiedenen Leuten, geht zum argentinischen Konsulat und fragt auch seine Kinder in England um ihre Meinung. Alle raten ihm zu, und er entschließt sich, die Stelle anzunehmen.

Zweieinhalb Wochen lang befindet er sich in einer euphorischen Stimmung. Dann aber, als er am 21. April vom Notar zurückkommt, wo er gerade sein Haus verkauft hat, findet er ein Telegramm von Hadamard vor: Das Angebot ist geplatzt [11]. Tief enttäuscht schreibt er an diesem Abend in sein Tagebuch:

So geht mir's immer. Blumenthals haben kein Glück. Schauderhafte Stimmung.

Die Vorbereitung des Umzugs ist eine gewaltige Arbeit. Otto Blumenthal darf Möbel und Bücher mitnehmen, und auch die Kinder sollen einiges davon nach London bzw. nach Manchester geschickt bekommen. Dazu sind Verhandlungen mit der deutschen Zollfahndung und mit der holländischen Zollbehörde nötig. Die Devisenstelle schickt einen Obergerichtsvollzieher und einen Zollbeamten, die in stundenlanger Arbeit das Umzugsgut abschätzen.

Der Haushalt wird völlig aufgelöst. Was nicht mitgenommen werden kann, wird verschenkt, verkauft oder entrümpelt.

Daneben erledigt Otto Blumenthal seine umfangreiche Korrespondenz, und wie immer empfangen die Blumenthals viel Besuch. Und in all dem Chaos bringt er es auch noch fertig, sich hinzusetzen und einen mathematischen Vortrag vorzubereiten, den er in drei Wochen in Lüttich halten soll.

Am 8. Juli 1939 beginnt das große Packen. Ein Teil des Haurats soll bei der Aachener Spedition Lauffs zwischengelagert und später nachgesandt werden, der Rest soll erst einmal nach Antwerpen gehen, wahrscheinlich als eine Option für den Fall, dass sich doch noch eine Alternative zu Delft als Auswanderungsziel ergibt. Außerdem müssen die Kisten für London und Manchester zusammengestellt werden. Fünf Tage lang sind die Packer damit beschäftigt, und immer sind zwei Zöllner dabei.

Am Abend des ersten Packtages fühlt sich Otto Blumenthal wie gerädert, aber sein Tag ist noch nicht zu Ende. Er schreibt einige Abschiedsbriefe, und dann geht er um Mitternacht zum Bahnhof und steigt in den Zug nach Frankfurt, weil seine Tante dort um einen Abschiedsbesuch gebeten hat. Als er in der nächsten Nacht um kurz vor ein Uhr wieder nach Hause kommt, sind seine Frau und seine Schwester [12] noch am Packen.

Folie 16: Tagebuch 12./13. 7. 1939

Seinen letzten Tag in Deutschland und seine Abreise beschreibt er in seinem Tagebuch. Ich zitiere leicht gekürzt:

Mittwoch, 12. 7. 1939.
Ganz scheußlicher Tag. 6 Packer. Ein Plumeau geht aufgerissen und meine Schwester weint hysterisch. Mali räumt Schubladen und Truhen aus und ist unglücklich. Der greuliche Althändler Weber kommt mitten zwischen die Packer und stört entsetzlich. Vormittags Polizei-Abmeldung und Fahrkarte geholt. Nachmittags auf der Bank. Sehr unerwartet die freudige Nachricht, dass mir meine Pension weiter bewilligt ist. 17 1/2 Abzug der Packer. Ab 18 0 Herr Hafeneth, Frau Sauer. 19 1/2 Passagiergut nach der Bahn gebracht. Beim Nachhausekommen ist das Handgepäck noch nicht gepackt, und es wird dunkel. 10 0 zu Frau Ruer, wo es ganz gut ist. Meine Schwester wohnt im Hotel.

Frau Ruer ist die Witwe des 1938 verstorbenen jüdischen Chemieprofessors Rudolf Ruer, der ebenfalls 1933 von der RWTH vertrieben wurde.

Und weiter im Tagebuch:

Donnerstag, 13. 7. 1939.
8 1/4 von Frau Ruer weg. Greuliche Stunden zu Hause, wo noch viel Wichtiges zurückgeblieben ist. Mali versucht in letzter Stunde alte Briefe zu ordnen und wird fast wütend. 11 1/2 Rest Gepäck zu Lauffs gebracht. 12 1/4 zu Hause. Dort finden sich immer noch Reste, die irgendwie erledigt werden müssen. 12 1/2 am Westbahnhof. Dorthin bringt Herr Tillmann im Auto zwei Schmuckstücke nach, die Mali seit gestern Abend vergebens sucht. Unschwierige Zolluntersuchung. Durch Hafeneths Vermittlung kommen Frau Ruer und meine Schwester noch auf den Bahnsteig, müssen aber vom Zug fernbleiben. Abschied von Deutschland.
In Simpelveld 2 Stunden liegen geblieben, weil meine Einreiseerlaubnis noch nicht eingetroffen ist. Mali todmüde. An Wolff
[13] telegrafiert. Ab Simpelveld 16 11. An Utrecht 19 1/2. Wolff getroffen, mit ihm nach Hause, wo es aber nichts zu essen gibt. Etwa 22 0 in Zuilenveld. Freundliche Aufnahme, etwas enttäuschende Lage. Todmüde.
Jacta est alea. 
[Der Würfel ist gefallen.]
Q D b v. 
[Quod Deus bene vertat, Gott möge es zum Guten wenden.]

Diese vier Buchstaben Q D B V, Gott möge es zum Guten wenden, stehen auch auf der ersten Seite am Anfang des Tagebuchs.

Folie 17: Foto Otto Blumenthal

In den Niederlanden finden die Blumenthals zunächst Aufnahme in der Nähe von Utrecht in einem Haus namens Haus Zuilenveld, einem Zufluchtsort für emigrierte deutsche Akademiker, den ein protestantischer Hilfsverein aus Amsterdam unterhält. Auch die Besitzer des Schlosses Zuylen, in dessen unmittelbarer Nähe das Haus liegt, kümmern sich um die Flüchtlinge. Die Blumenthals erhalten ein Zimmer, das zwar kein fließendes Wasser hat, die Dielen des Fußbodens bewegen sich gegeneinander, die Tapete ist hässlich, aber ansonsten ist es ein schönes, sehr großes Zimmer mit großen, hohen Fenstern und einem Fluss vor den Fenstern, auf dem Schiffe vorbeifahren.

Die vier Familien, mit denen sie das Haus teilen, sind angenehme Mitbewohner. Es sind zwei Juraprofessoren [14] mit ihren Frauen, der eine eine Berühmtheit, wie Otto Blumenthal feststellt, der andere wahrscheinlich auch, beide etwa im Alter der Blumenthals, und zwei jüngere Familien, ein Kinderarzt [15] aus Berlin mit Frau und zwei Kindern und ein Kunsthändler aus Düsseldorf mit seiner Frau. Kurze Zeit später zieht auch noch die Anthropologin Stefanie Martin-Oppenheim ein, eine alte Bekannte von Otto Blumenthal.

Dass die Bewohner ihre Zimmer selber machen müssen, dass sie gemeinschaftlich kochen und dass Frau Blumenthal beim Spülen helfen muss, ist für die Blumenthals, die daran gewöhnt sind, ein Mädchen zu haben, zunächst ungewohnt. Später einmal [16], als die beiden wieder einen eigenen Haushalt haben und seine Frau vier Tage lang mit Fieber im Bett liegt, spült er selber und hält dann im Tagebuch fest, dass es "unerwartet einfach" war.

Schon wenige Tage nach der Ankunft in Zuilenveld fährt er nach Lüttich, um den Vortrag zu halten, an dem er schon in Aachen gearbeitet hat. Vier Tage lang genießt er die vertraue Atmosphäre einer mathematischen Tagung, dann ist er wieder in Zuilenveld und braucht dringend etwas zu tun. Er macht erstmals Hausarbeit im Arbeitsanzug, aber es liegt ihm mehr, sich akademisch einzubringen. Er hält spontan einen Vortrag über die niederländische Geschichte und organisiert eine gut besuchte Akademieveranstaltung [17] mit einem Vortrag zu dem Thema "Irren ist menschlich - auch in der Mathematik", den er sorgfältig vorbereitet.

Einen Tag später kommen seine Möbel aus Aachen und sorgen für Beschäftigung.

Gleichzeitig planen die Blumenthals eine Reise zu den Kindern in England. Sie bekommen anstandslos ein Visum und fahren am 20. August 1939 nach London. Es ist schön für sie, die Kinder wieder zu sehen und zu sehen, wie und wo sie in London bzw. in Manchester leben, aber die Reise wird überschattet durch die politische Situation, die sich bedrohlich zuspitzt. Schon am dritten Tag drängt Margrete die Eltern zur Abreise, und nach zwei Tagen quälender Überlegungen fahren sie tatsächlich schon am 26. August wieder nach Zuilenveld zurück. Wenige Tage später bricht der Zweite Weltkrieg aus.

Otto Blumenthal versteht es, sich in kurzer Zeit einen neuen Bekanntenkreis aufzubauen. Es gibt wieder viele Besuche und Gegenbesuche. Auch seinen umfangreichen Briefwechsel führt er unvermindert fort.

Eine finanzielle Unterstützung ermöglicht es ihm, eine eigene Wohnung zu mieten. Er besichtigt einige Wohnungen in der Nähe von Utrecht und in Delft und entscheidet sich für eine Wohnung in Delft. Am 19. Oktober findet der Umzug statt, wieder mit Hilfe von mehreren Packern.

In den nächsten Wochen stecken die Blumenthals viel Zeit und Arbeit darein, die Wohnung gemütlich einzurichten. Sie lassen die restlichen Möbel aus Antwerpen kommen und beschäftigen wieder mehrere Handwerker. Sogar ein Mädchen und eine Putzfrau stellen sie ein. Das Leben erinnert wieder an früher.

Eine richtige Arbeit hat Otto Blumenthal nicht. Trotzdem wendet er sich wieder der Mathematik zu. Vor einem halben Jahr, als er noch in Aachen war, ist er zu zwei Vorträgen eingeladen worden, die er Anfang Dezember in Brüssel halten soll. Er bereitet sie sehr sorgfältig vor und ist dann mit dem Erfolg auch recht zufrieden.

Sonntags geht er meist in die Kirche, obwohl er am Anfang noch wenig versteht.

Folie 18: Annalen-Titelseiten

Am Silvestertag schreibt er an David Hilbert und berichtet über die Ausreise aus Deutschland, die Zeit in Zuilenveld, die Englandreise und die gegenwärtige Situation in Delft. Und dann schreibt er:

Die Titeländerung auf dem letzten Annalenheft habe ich mit einigem Schmerz gesehen. Aber es ist richtig so. Für die Annalen ein einschneidendes Ereignis.

Wie man sieht, besteht die Änderung darin, dass der Name "Otto Blumenthal" nach 33 Jahren von der Titelseite verschwunden ist.

Trotz dieses Schmerzes gilt wohl aber auch für ihn der Satz, den seine Frau an den Brief anfügt:

Ich bin sehr zufrieden hier.

Es scheint, dass beide anfangen, sich in Delft wohl zu fühlen.

Mit diesem Silvestertag endet nicht nur das Jahr, sondern auch das Tagebuch des Jahres 1939, das er am 1. Januar mit dem Wunsch begonnen hat, Gott möge es zum Guten wenden. Nun schließt er es ab mit den Zeilen:

Gegen Mitternacht mit Aachener Kerzenresten nochmals das Bäumchen angesteckt, Torte von Frau Bremekamp. Gemeinsam Briefe zum Kasten getragen. Erst gegen 2 0 zu Bett.
Lieber Ausklang dieses aufregenden und rätselhaften Jahres.
Noch 11 ct. als Besitz von uns beiden.

Am 10. Mai 1940 überfallen deutsche Truppen die Niederlande. Otto Blumenthal notiert:

0 aufgewacht durch Geschützfeuer und Fliegerlärm. Mindestens 10 Flugzeuge. Eines fliegt ganz niedrig, eiserne Kreuze daran, aus einem fallen langsam 3 gelbe Gegenstände, wahrscheinlich Fallschirmabsprung. Radio brüllt im Unterhaus. Sehr gegen Willen zur Überzeugung gekommen, dass Krieg ist. 8 0 ausgegangen, um Briefe in den Kasten zu tun. Gleich arretiert und auf die Wache gebracht. Dort 1 1/2 0 gesessen, bis sich ein guter Unteroffizier meiner erbarmt und Mali benachrichtigt. Kommt mit Pass zurück, kurz darauf höfliche Entlassung. Mali hat mich während der Verhaftung bei Schouten [18] gesucht, der kreideweiß gewesen sein soll. Nachmittags mehrfach Flak und MG.

Einige Tage lang trauen sich die Blumenthals nicht aus dem Haus. Er packt einen Handkoffer für den Notfall. Aber das Leben normalisiert sich erst einmal wieder.

Folie 19: Rotkreuzbrief

Allerdings ist der Briefverkehr nach England und damit auch der enge Briefkontakt mit den Kindern unterbrochen. Zunächst geht gar nichts mehr, dann organisiert das Internationale Rote Kreuz eine Vermittlung für Kurzbriefe. Diese müssen deutlich lesbar auf speziellen Formularen geschrieben sein und dürfen höchstens 25 Wörter enthalten. Der Empfänger kann eine Antwort von ebenfalls höchstens 25 Wörtern auf die Rückseite schreiben und das Formular zurückschicken.

Die Blumenthals beginnen, sorgfältig entworfene Briefe zu verschicken, bei denen sie möglichst viel Information in genau 25 Wörter pressen, aber nicht alle Briefe kommen an, und die Laufzeiten von z. B. sechs Monaten für einmal hin und zurück sind unerträglich lang.

Folie 20: Foto Otto Blumenthal

Ende Mai 1940 werden die Pässe und die Aufenthaltsgenehmigung der Blumenthals anstandslos verlängert.

Am 6. September 1940, einem Freitag, erhalten sie jedoch plötzlich den Befehl, Delft bis spätestens Sonntag zu verlassen, weil "die Küstenstrecke von Nichtariern gesäubert wird". Die Aufregung und die Hektik, die das auslöst, sind gewaltig. Auch ein ärztliches Attest für Mali Blumenthal bewirkt keinen Aufschub. Ein holländischer Bekannter versucht, sie vorübergehend bei seinem Vater in Arnheim unterzubringen, aber das klappt nicht. Er findet dort jedoch ein anderes Privatquartier. In aller Eile packen sie, soweit sie können, ihre Sachen zusammen und verlassen Delft noch gerade rechtzeitig am Sonntag, dem 8. September.

Die Behördenformalitäten sind sehr zeitraubend. Dann beginnen die Blumenthals fieberhaft, in Utrecht nach einer Wohnung zu suchen. Dabei werden sie von einigen Leuten aus Utrecht tatkräftig unterstützt, besonders von drei Frauen, nämlich von ihrer alten Bekannten Stefanie Oppenheim, von Frau Immink, der Frau eines Utrechter Pastors, den sie während ihrer Zeit in Zuilenveld kennen gelernt haben, und von Gertrud Magnus, einer deutschen Professorenwitwe, die sie bisher nicht kannten.

Zehn Tage später finden sie eine geeignete Unterkunft in einer Pension, und am 21. September 1940 ziehen sie wieder einmal um.

Es gelingt Otto Blumenthal, sich in kurzer Zeit wieder einen neuen Freundeskreis mit intensiven gesellschaftlichen Kontakten aufzubauen. Eine richtige Arbeit hat er nicht. Einige schriftlichen Arbeiten, die er noch in Delft gegen geringe Bezahlung übernommen hat, laufen weiter, aber er findet keine Studenten, die an den von ihm angebotenen Nachhilfestunden interessiert sind.

Sonntags geht er fast regelmäßig in die Kirche. Als im Februar 1941 ein Bibelkreis für protestantische Juden gegründet wird, sind die Blumenthals von Anfang an dabei. Eine der Teilnehmerinnen [19], die Anfang 1942 dazukommt, schreibt später an Ottos Sohn Ernst Blumenthal:

Zu dieser Bibelstunde wurden mein Mann und ich eingeladen und wir begegneten da Ihren Eltern. Es waren 12 Teilnehmer. Wir kannten von dem Kreis niemand und Ihr Vater fiel uns auf durch seine gründliche Kenntnis von der Bibel. Er war immer sehr eifrig bei der Sache und überlas noch die Texte in der griechischen Bibel, die er immer neben der Lutherischen Bibel liegen hatte.

Und Gertrud Magnus schreibt 1945 an Margrete Blumenthal:

Ihren Vater habe ich sehr hochgeschätzt; er war stets mein "Lexikon" und sein Wissen war so groß und so erschöpfend, dass er nie versagte. So besprach ich mit ihm stets die Stücke, die in einem von mir gefolgten Bibelkurs behandelt wurden, und er ging dabei so in die Probleme ein und wusste alles so gründlich und klar zu erklären, dass man ein gutes Bild bekam.

Im März 1941 wohnt Otto Blumenthal bereits ein halbes Jahr in der Pension, doch er möchte dort raus. Da er nicht die geringste Chance hat, in seine gemütlich eingerichtete Wohnung in Delft zurückzukehren - nicht einmal für einen kurzen Besuch in Delft bekommt er die Erlaubnis -, sucht er nach einer möblierten Wohnung und mietet schließlich ein geeignetes "Zimmer plus Kabinett". In sein Tagebuch schreibt er wieder einmal "Q. D. b. v.", Gott möge es zum Guten wenden.

Beim Umzug reicht diesmal ein Gepäckträger mit einem Fracht-Dreirad aus, um die Habe der Blumenthals zu transportieren.

Im Jahr 1942 sind sie als Juden zunehmenden Schikanen ausgesetzt:

Am 19. August 1942 erhalten sie einen Eilbrief vom Jüdischen Rat, dass sie am 25. August nach Amsterdam evakuiert werden sollen. Einen Tag vor der Abfahrt dann die Nachricht: Nicht nach Amsterdam, sondern in das Lager Westerbork. Was dann am nächsten Tag geschieht, ist unerwartet. Der Tagebucheintrag vom 25. August beschreibt es so:

Die Nacht durchgepackt, 6 0 fertig, 7 0 Frühstück. 9 1/2 zur Polizei, sehr anständig, können aber nichts ändern, verweisen auf gute Ärzte in Westerbork. Etwas unzufrieden mit unseren 9 Stück Gepäck. Im Autobus zum Bahnhof. Dort alle Freunde. 14 0 Abfahrt in anständigen alten deutschen Wagen.
In Amersfort aus dem Zug gerufen: Wir sollen nach Utrecht zurück, Befehl der "Zentralstelle"!! Meistes Gepäck im Gepäckwagen nicht zu finden, muss von Westerbork morgen zurückgeschickt werden. Rasch Abschied von Freunden. Glücklich, aber zweifelhaft.
Auf Bahnhof Utrecht Frl. Klomp strahlend: Pastor Duyvendak hat uns freibekommen, sie uns aus dem Zug rufen lassen. Zu Hause aufrichtige Freude: Besuch von Duyvendak, Aufklärungen. Abends Siegel von Zimmer abgenommen. Also dürfen wir in Utrecht bleiben!

Und fünf Tage später:

Unser Transport soll bereits von Westerbork nach Osten weiter sein.

Eine besonders schlimme Schikane besteht darin, dass die Blumenthals immer wieder ihre Wohnung oder ihr Zimmer räumen und sich eine neue Unterkunft suchen müssen, was von Mal zu Mal schwerer wird. Es ist geradezu grotesk, wie oft sie auf Wohnungssuche sind.

Ein Beispiel, wie es ihnen mehrmals passiert: Am 6. November 1942 kommen Beamte aus Amsterdam und erklären ihnen, dass sie aus ihrer Wohnung raus müssen. Sie suchen eine neue Wohnung, finden sogar eine, können sie aber nicht fest mieten, weil sie noch keine Umzugsgenehmigung haben. Otto Blumenthal läuft von Behörde zu Behörde, um diese Genehmigung zu bekommen, und wird schließlich ans Quartieramt verwiesen. Was folgt, beschreibt er in seinem Tagebucheintrag vom 26. November:

Vormittags Quartieramt. Höflicher Beamter erklärt, nichts tun zu können ohne obrigkeitliche Erklärung, dass wir Wohnung verlassen müssen. Wieder zum Jüdischen Rat: Der rät, mündlich bei der Deutschen Dienststelle Bescheid zu erbitten. Leider gefolgt. Auf der Deutschen Dienststelle Unterredung im Leutnantston: wir müssen bis 2 0 die Wohnung geräumt haben (12 0).

In aller Eile packen die Blumenthals mit einigen Helfern ihre Habe zusammen. Es dauert bis 5 Uhr, und immer befürchten sie, dass die Deutsche Dienststelle einen Kontrolleur schickt. Sie finden für ein paar Tage Unterschlupf bei Bekannten und können schließlich am 1. Dezember in ihre neue Wohnung einziehen.

Nur einen Monat später ist es wieder so weit. Am 6. Januar 1943 erhalten sie die Nachricht, das Haus, in dem sie wohnen, sei durch den Kommissar der Provinz Utrecht angefordert und sie müssten alle bis Samstag heraus. Es ist Mittwoch. "Donnerschlag" schreibt Otto Blumenthal mal wieder in sein Tagebuch.

Nach einer hektischen Woche finden sie ein Zimmer und ziehen am 13. Januar wieder einmal um, und wieder heißt es: Alles einpacken, die Kohle in Säcke füllen, usw. usw.

Es ist ihr letzter Umzug in Utrecht.

Folie 21: Tagebuch 22. 4. 1943

Am 13. April 1943 wird bekannt gegeben, das Utrecht bis zum 23. April "ausgeräumt" wird. Alle Juden in Utrecht werden aufgefordert, sich am 22. April im Auffanglager Vught des Konzentrationslagers 's-Hertogenbosch einzufinden.

Die Blumenthals verabschieden sich von ihren Freunden. Otto Blumenthal schließt seine Tagebücher ab und übergibt sie der Frau Immink zur Aufbewahrung. Der letzte Eintrag lautet:

Ab nach Vught.

Am 10. Mai, 18 Tage nach ihrer Ankunft in Vught, werden die Blumenthals bereits weiter verlegt. Als so genannte "Altgetaufte" kommen sie in das Lager Westerbork. Elf Tage später stirbt Mali Blumenthal.

Folie 22: Foto Mali Blumenthal

Wie es dazu kommt, beschreibt eine Bekannte [20] aus Utrecht später in einem Brief an eine Freundin [21] von Mali Blumenthal. Ich möchte den betreffenden Abschnitt vorlesen, obwohl er etwas länger ist. Sie schreibt:

Darf ich Ihnen nun erzählen, was Professors, meine Mutter und ich erlebten, nachdem wir aus Utrecht in das berüchtigte holländische Konzentrationslager Vught kamen. Am 22. April 1943 erhielten die Utrechter Nichtarier Befehl, augenblicklich in das Konzentrationslager Vught zu gehen. Meine Mutter und ich gingen also zusammen mit Blumenthals nach Vught.
In Vught war es grauenvoll. Die Männer wurden sofort von ihren Frauen getrennt, wir Frauen in der so genannten Quarantänebaracke untergebracht, die Männer, durch Stacheldraht von uns getrennt, in einem anderen Teil des ausgedehnten Lagers. Man hatte uns gesagt, dass wir nicht nur jeder 250.- Gulden mitnehmen durften, sondern auch ruhig unsere besten Sachen; denn man wüsste ja nicht, wie lange es dauert. Direkt nach Ankunft wurde uns alles abgenommen, Trauringe, Uhren, eventuelle Schmuckgegenstände, Weckeruhren, Briefpapier, WC-Papier, Medikamente, natürlich das Geld, die Mäntel, Schürzen, Leibwäsche, Kleidung, später auch die Rucksäcke und Koffer mit dem Wenigen, das wir noch besaßen.
Und nun kam das Furchtbarste, was Frau Blumenthal das Leben gekostet hat. Wir sollten entlaust werden, so wurde es wenigstens genannt. Wir mussten stundenlang in einer zugigen Baracke völlig nackt dastehen und dann mit über dem Kopf erhobenen Händen in diesem Zustande an den Deutschen vorbeimarschieren. Die älteste Frau in unserer Baracke war 94, sie starb noch am selben Tage, das Jüngste war ein Baby von 5 Monaten, das, wie die meisten kleinen Kinder, auch bald starb.
Frau Blumenthal klammerte sich an mich und sagte fortwährend: "Kind, Kind, das kann doch nicht wahr sein, völlig nackt." Ich versuchte sie und meine Mutter zu trösten und ihnen zu sagen, dass solche Menschen uns doch nicht beleidigen könnten, aber es half alles nichts. Von diesem Moment an war der Geist von Frau Blumenthal verwirrt. Sie wiederholte noch einige Male "Nein, nein", aber sonst tat sie völlig fremd.
Am 10. Mai ging der Alterstransport von Menschen über 60 nach Westerbork, also Professors und meine Mutter. Der Rest wurde ihnen noch beim Verladen abgenommen, die Handtaschen aus der Hand gerissen. Am 20. Mai kam auch ich nach Westerbork, am 21. wollte ich natürlich sofort zu Blumenthals, treffe zufällig den Professor, der mir sagt, dass seine Frau eben gestorben ist. "Und", und dabei lachte der Professor ganz glücklich, "sie hat scheinbar an etwas aus der Jugend der Kinder oder aus ihrer eigenen Jugend gedacht, denn sie wiederholte immerzu "Nein, nein".
Ich wollte ihm die Illusion nicht rauben, aber ich wusste es besser.

Folie 23: Foto Otto Blumenthal

Um etwas Sinnvolles zu tun, beginnt Otto Blumenthal, für die Kinder im Lager eine Art Schule aufzubauen. Aber er kommt mit den Kindern nicht gut zurecht, und es wird ihm nicht gedankt. Er will von Westerbork weg, und da er weiß, dass seine Schwester im Juli 1942 nach Theresienstadt gekommen ist [22], bewirbt er sich um eine Verlegung dorthin.

Es dauert etliche Monate, dann wird sein Wunsch erfüllt. Am 20. Januar 1944 trifft er mit seinen letzten Habseligkeiten, einigen Mathematikbüchern, Familienfotos und seiner Bibel, hoffnungsvoll in Theresienstadt ein, aber er wird wieder einmal bitter enttäuscht: Es stellt sich heraus, dass seine Schwester bereits im Juni 1943 in Theresienstadt gestorben ist.

Das so genannte Ghetto Theresienstadt ist angeblich eine selbstverwaltete Stadt. In dieser Selbstverwaltung bilden einige Tschechen eine einflussreiche Oberschicht. Einer dieser Leute, ein Herr Goldschmied [23], hat Zugang zu den Listen der Neuankömmlinge und sieht mit Interesse, dass ein Mathematiker angekommen ist. Der Name "Ludwig O. Blumenthal" sagt ihm nichts, aber er sucht ihn auf und stellt fest, dass es Otto Blumenthal ist, von dem er vor dem Krieg in Prag einen Vortrag über David Hilbert gehört hat.

Otto Blumenthal ist ungeheuer erfreut, dass es in dieser trostlosen Umgebung jemanden gibt, der ihn aus besseren Zeiten kennt. Eine kleine Gruppe von Tschechen nimmt sich seiner nun liebevoll an. So wird Otto Blumenthal, der nicht zu den so genannten prominenten Lagerinsassen gehört, durch Zufall zu einer privilegierten, beschützten Person. Zu seinen neuen tschechischen Freunden gehören insbesondere der Ingenieur Emil Jilovský [24] und seine Frau [25].

Sie besorgen ihm zunächst einmal ein Quartier, wo es keine Ratten und Wanzen gibt, sie verschaffen ihm höhere Lebensmittelrationen, und sie sorgen dafür, dass er auf keine Transportliste nach Auschwitz kommt. Weil jeder arbeiten muss, sie ihm aber so etwas wie Wäsche nähen ersparen wollen, erfinden sie für ihn die Stellung eines Mathematikers in der technischen Abteilung. Er bekommt einen Tisch und einen Stuhl in einem kleinen Kontor und kann dort tun, was ihm gefällt.

Wie es seine Art ist, arbeitet er fleißig. Natürlich sind es mathematische Probleme, mit denen er sich beschäftigt. Er hält verschiedene Vorträge und beginnt schließlich sogar zwei richtige Vorlesungen (über Differential- und Integralrechnung sowie über Funktionentheorie). Das ist zwar eigentlich verboten wie jeder Unterricht, aber es gelingt den Tschechen, der SS weiszumachen, dass das für die Wasserversorgung der Stadt unerlässlich sei.

Allerdings muss er seine Vorlesungen bald unterbrechen, weil er schwer an Herz und Lunge erkrankt, er hat eine Lungenentzündung und dazu noch die so genannte "Theresienstädter Krankheit", die Ruhr. Seine tschechischen Freunde sorgen dafür, dass ihn der leitende Arzt des Krankenhauses persönlich behandelt. Er ist lange krank, aber er schafft es und wird wieder gesund. Der Arzt dringt darauf, dass er besseres Essen haben muss. Seitdem kocht ihm Frau Jilovská jeden Abend etwas Warmes.

Außerdem macht es ihr Freude, ihm Tschechisch-Unterricht zu geben. Das wäre jetzt seine zehnte Sprache, aber an dem ungewohnt geringen Fortschritt merkt er, dass sein Kopf nicht mehr so arbeitet wie früher.

Die ganze Zeit hindurch wartet er sehnsüchtig auf Nachrichten von der Familie und von den Freunden in Utrecht, aber deren Post kommt fast nie bei ihm an. Bis Ende Oktober 1944, als er schon neun Monate in Theresienstadt ist, hat er nur eine Karte von Frau Immink und eine Karte und ein Paket von Frau Magnus bekommen. Es quält ihn, dass er nicht weiß, wie es den Kindern geht.

Da die Tschechen englische Sender abhören, erfährt er andererseits, dass Aachen sehr zerstört ist. Einer seiner Mitgefangenen [26] berichtet später, dass ihn das mehr bedrückt als er zugeben will.

Am 12. November 1944 stirbt Otto Blumenthal. Er ist 68 Jahre alt. Seinem tschechischen Freund Emil Jilovský verdanken wir einen Augenzeugenbericht über seine letzten Tage:

Am 8. November 1944 erwachte er, stand auf und ich beobachtete sofort, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sei. Er ging durch das Zimmer mit unsicheren Schritten und sprach irr.
In letzter Zeit hatte er Beine und Arme angeschwollen. Ich ließ am 9. November den Arzt rufen und er riet zur Überführung des Professors in ein Krankenhaus. Am 10. November überführten wir den Herrn Professor in das Allgemeine Krankenhaus in Theresienstadt. Den Ärzten war seine Krankheit ein Rätsel, sie konnten nichts feststellen.
Am 10. November aß Professor Blumenthal noch das Abendbrot, das ich ihm brachte. Am 11. November aß er schon nicht mehr, er erkannte auch mich und meine Frau nicht mehr, und am 12. November morgens um 5.40 Uhr schlief er ruhig ein und erwachte nicht mehr.
[27]

Zur Klärung der Todesursache führen die Ärzte eine Obduktion durch. Sie stellen Alterstuberkulose und Gehirnwasser fest, also scheinbar eine natürliche Todesursache. Aber es ist wohl unbestreitbar, dass die systematische Demütigung und Zermürbung, denen er viele Jahre lang ausgesetzt war und die er so tapfer ertragen hat, ihn in einen vorzeitigen Tod getrieben haben.

Folie 24: Gedenktafel am Haus

Vor seinem Haus in der Limburger Straße, das er genau heute vor 70 Jahren bezogen hat, wollen wir mit einer Gedenktafel an sein Schicksal erinnern. Die Einweihung wird in wenigen Wochen stattfinden. [28]


Bemerkungen

[1] Lehrstuhl D für Mathematik, RWTH Aachen. Email: volkmar.felsch@math.rwth-aachen.de.

[2] Der vorliegende Text unterscheidet sich von dem ursprünglichen Vortragsmanuskript nur durch einige kleinere Korrekturen und die nach und nach hinzugefügten Fußnoten (letzte Ergänzung am 29. 1. 2008). Er ist auch als PDF-Datei verfügbar.

[3] Alexander Lohe: "Von den Nazis vertrieben: Der Aachener Professor Alfred Meusel", Vortrag in der Volkshochschule Aachen, 31. März 2003.

[4] Der Bruder von Elfriede Ebstein war der Internist Arthur Nicolaier, der sich 1884/85 als junger Mediziner in Göttingen durch die Entdeckung des Tetanuserregers einen Namen machte. Später war er Professor in Berlin. 1942 entzog er sich dort im Alter von 80 Jahren durch Selbstmord dem Transport nach Theresienstadt. Als einer der engsten Verwandten der Blumenthals stand er mit ihnen bis zu seinem Tod in regelmäßigem Briefkontakt. Seinen wissenschaftlichen Nachlass vermachte er dem Sohn von Otto Blumenthal.

[5] Otto Blumenthal war außerdem Mitglied in der Deutschen Liga für Völkerbund, in der Deutschen Friedensgesellschaft (als zeitweiliges Vorstandsmitglied der Ortsgruppe Aachen), in der Deutsch-Französischen Gesellschaft, in der Deutsch-Niederländischen Gesellschaft zu Aachen (als Gründungsmitglied und Schriftführer) und im Verein für das Deutschtum im Ausland.

[6] Dieses Zitat ist, ebenso wie einige der folgenden Zitate, geringfügig gekürzt.

[7] Otto Blumenthal wurde nicht, wie in früheren Biographien angegeben, von der SS verhaftet, sondern von studentischen Hilfspolizisten, die ihn dann der politischen Polizei übergaben.

[8] Otto Blumenthal hatte wie jeder Beamte den "Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933" ausfüllen müssen. Der für die Auswertung der Angaben zuständige Referent notierte: "§ 3: 100 % Jude. Vorkriegsbeamter (o. Professor T. H. Aachen 05). Frontdienst einwandfrei nachgewiesen." Damit konnte Otto Blumenthal nach den damaligen Bestimmungen (1933) nicht aus rassischen Gründen entlassen werden. Zu einer möglichen Entlassung aus politischen Gründen vermerkte der Referent: "§ 4: Seit 1919/20 Mitglied der Liga für Menschenrechte (s. die Erklärung dazu)". Sein Vorgesetzter, der Generalreferent, schrieb darunter: "Zu entlassen nach § 4. (Mitglied der Liga f. Menschenr.)", und der Minister folgte dieser Empfehlung. Die von ihnen nicht mehr erwähnte Erklärung von Otto Blumenthal lautete: "Ich bin der Liga für Menschenrechte beigetreten, weil ich mit ihren friedensfreundlichen und menschenfreundlichen Bestrebungen sympathisiert habe. Aktiv habe ich weder für sie noch in ihr gewirkt, wie mir überhaupt politische Betätigung fremd ist. Ich habe an keinen Versammlungen oder sonstigen Veranstaltungen der Liga für Menschenrechte teilgenommen und mit keinem Mitglied in Beziehung gestanden."

[9] I could fill to satisfaction any chair for Pure or Applied Mathematics, but I should also be content with a minor employment (as assistant, instructor or lecturer) in a university or a position as master in a High School, provided the salary will secure to my wife and me a sufficient though modest living. In a university or a high school I could combine a post as teacher in Mathematics with a demonstratorship or lectureship in modern languages.

[10] Eine Kupfer-Nickel-Zink-Legierung, die früher auch unter dem Namen Alpaka bekannt war.

[11] In einem Brief an Theodore von Kármán vom 10. 1. 1940 berichtete Otto Blumenthal später weitere Einzelheiten: "Einmal bot sich eine unerwartete Chance: Hadamard schlug mich nach Rosario (Argentinien) auf die neu zu gründende Stelle des Direktors des Mathematischen Instituts vor. Er war seiner Sache ganz sicher, weil er meinte, er sei allein um Vorschläge ersucht worden. Es waren aber auch Italiener gefragt worden, und nicht ich bekam die Stelle, sondern Beppo Levi, der ein Jahr älter ist als ich."

[12] Otto Blumenthals Schwester Anna Storm war schon im März 1933 nach Aachen gekommen, um ihm und seiner Frau bei der Auflösung des Haushalts zu helfen. Ihr Mann, der Arzt Hans Storm, war ein Enkel des Dichters Theodor Storm. Die in einigen Nachrufen auf Otto Blumenthal (z. B. in M. Pinl: "Kollegen in einer dunklen Zeit", Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 71 (1969), 167-228) enthaltene Bemerkung, sie sei eine Schwiegertochter von Theodor Storm gewesen, ist also nicht richtig.

[13] Der Utrechter Mathematiker Julius Wolff.

[14] Erich Kaufmann, Professor für Staats- und Völkerrecht in Berlin, und Eberhard Friedrich Bruck, Professor für Römisches Recht in Bonn.

[15] Der später in Auschwitz ermordete Arzt und Biologe Fritz Demuth.

[16] Am 18. Januar 1940.

[17] Das war eine der wissenschaftlichen Veranstaltungen, die die deutschen Flüchtlinge in Haus Zuilenveld im Rahmen einer "Zuilensche Academie van Wetenschapen" anboten.

[18] Der Mathematiker Jan A. Schouten.

[19] Agnes Poláček-Glas.

[20] Katrin H. Graetz-Goetschel.

[21] Laura Jenny in Basel.

[22] Otto Blumenthal hatte erfahren, dass seine Schwester am 20. Juli 1942, seinem 66. Geburtstag, nach Theresienstadt deportiert worden war, und er hatte auch eine Abschrift der Postkarte erhalten, die sie dort am 10. Januar 1943 an ihre Tochter Elsabe geschrieben hatte und auf der es hieß: "Mein geliebtes Kind! Rasch, leicht und gut eingelebt. Durchaus zufrieden. Gesund, arbeitsfreudig, zuversichtlich. Beste Stuben- und Arbeitskameradschaft. Arbeit als Wäschenäherin gibt straffen, angeregten Tagesrhythmus."

[23] Der Prager Physiker Bedřich (Friedrich) Goldschmied.

[24] Emil Jilovský war vor seiner Internierung Direktor der Teplitzer Maschinenwerke gewesen und konnte nach dem Krieg auf diesen Posten zurückkehren.

[25] Marie Jilovská.

[26] Der Chemiker Gert Salomon aus Den Haag.

[27] Das hier angegebene Zitat stammt aus einem Bericht, den Emil Jilovský im Herbst 1945 für einen Vetter von Otto Blumenthal, den Züricher Verleger Carl Posen, aufgeschrieben und den ein Prager Anwalt diesem dann in einem Brief vom 5. 10. 1945 zugesandt hat. Posen schickte den Brief an Ernst Blumenthal nach England weiter.
Es scheint, dass sich Jilovský in seinem Bericht bei den Daten um einen Tag geirrt hat. In den Dokumenten von Theresienstadt ist nämlich als Todestag von Otto Blumenthal nicht der 12., sondern der 13. November 1944 eingetragen, und dieses Datum wird durch einen anderen Bericht bestätigt. Dieser andere Bericht befindet sich in einem Brief, den der Chemiker Gert Salomon aus Den Haag am 6. 10. 1945 ebenfalls an Ernst Blumenthal schickte. Salomon und Otto Blumenthal hatten sich schon in Utrecht kennen und gegenseitig schätzen gelernt, bevor sie interniert wurden, und waren dann später in Theresienstadt wieder zusammengetroffen. In seinem Brief an Ernst Blumenthal schrieb Salomon nun unter anderem über den Tod von Otto Blumenthal:

One of the local cruelties was "moving", suddenly one of the huge barracks had to be cleared by order within a day and one was sandwiched between some other groups. As I had been ill I did not see the prof. for about a week in the beginning of November, when I heard that the barrack was ordered to move. I called at Hylovsky [gemeint ist Emil Jilovský] asking: is the prof. going to move with you? the prof? we buried him this morning.
On Thursday his mind had suddenly darkened, he could not distinguish the food anymore and talked incomprehensible things. Hylovsky had him transferred to the hospital and as he was a man of influence your father was well attended. Hylovsky saw him on Sunday afternoon, he could not speak anymore and did not recognize him. He died in his sleep the same night.
The funeral service was on Tuesday and as nobody knew about it only a representative of the protestant group, the doctor and Hylovsky were present.

Wenn Otto Blumenthal, wie Jilovský schreibt, morgens früh gestorben ist, muss es nach Salomon an einem Montag gewesen sein, also nicht am 12. November 1944, der ein Sonntag war, sondern erst am 13. November. Ernst Blumenthal gab das Datum aus dem Jilovský-Bericht weiter, und so gelangte es in die vielen Nachrufe und Biographien von Otto Blumenthal, wo wir es heute finden.

[28] Diese Ankündigung vom 1. Oktober 2003 war zu optimistisch. Die Gedenktafel vor dem Haus in der Limburger Straße wurde erst am 14. Mai 2004 installiert, die offizielle Einweihungsfeier in Anwesenheit der in England lebenden Nachkommen von Otto Blumenthal fand am 11. September 2004 statt.